Heldendichtung und Geschichtsschreibung: Die Muse Klio (J. H. Tischbein d.Ä. 1780) [Quelle: Bestand Gemäldegalerie Alter Meister Kassel]
Hand auf’s Herz: Wer von uns Bauingenieuren glaubt nicht, dass wir unser Handwerk heute besser verstehen als alle anderen vor uns?
„Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ – Geschichte für Bauingenieure?
Von Prof. Werner Lorenz
Der Zukunft verpflichtet, dem Fortschritt ergeben – kein Blick zurück?
In den Lehrplänen aller deutschen Architekturstudiengänge ist die Geschichte der Architektur als Pflichtfach vertreten. Die mehrsemestrige Auseinandersetzung der angehenden Architekten mit der Geschichte ihres Fachs wird getragen von einer nahezu selbstverständlichen Akzeptanz. In den Lehrplänen fast aller Bauingenieurstudiengänge ist die Geschichte der Bautechnik nicht als Pflicht- und in der Regel selbst nicht als Wahlfach vertreten. Die Ausbildung der angehenden Bauingenieure ist – ebenso selbstverständlich – weitgehend ahistorisch. Merkwürdig.
Auf der Suche nach möglichen Erklärungen stößt man auf die unterschiedlichen Entwicklungsmodelle, die das Selbstverständnis von Ingenieuren und Architekten bestimmen. Sie hängen mit unterschiedlichen Denkmodellen zusammen, auf die schon vor Längerem Tom F. Peters hingewiesen hat: Der „klassische“ Ingenieur denkt eher vertikal, sprich analytisch, zerlegend, deduktiv, hierarchisch kategorisierend – der „klassische“ Architekt hingegen eher horizontal, sprich synthetisch, assoziativ.
Es kann nicht verwundern, dass sich dies auch in einem unterschiedlichen Geschichtsverständnis niederschlägt. Der Architekt, so er sich denn seiner Geschichte tatsächlich annimmt, versteht sie als Abfolge verschiedener Antworten auf durchaus vergleichbare Problemstellungen. Ungeachtet dessen, dass sich diese Antworten historisch bedingt beispielsweise neuer Werkstoffe bedienen, weisen sie doch immer wieder Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten, Transformationen und Renaissancen alter Muster auf. Als Beispiel mag Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin gelten – eine Inkunabel der Moderne und doch entstanden als stählerne Transformation eines Säulentempels der klassischen Antike. Dem dafür offenen Architekten gleicht seine Geschichte einem großen Meer: Immer neu und immer anders lässt sich aus ihm schöpfen, das Nebeneinander ist dabei wichtiger als das Nacheinander.
Anders denkt und arbeitet in der Regel der Ingenieur. Sein Blick ist nicht zurück, sondern nach vorn gerichtet. Er ist überzeugt von einem kontinuierlichen Fortschritt der Bautechnik, der zugleich dem Fortschritt der Menschheit schlechthin dient. Seine Geschichte gilt ihm als einbreiter, immer mächtigerer Strom, in dem alle historischen Entwicklungsschritte gleich Nebenarmen zusammengeflossen sind, stetig in weiterer Bewegung hin zu neuen Ufern, und an der Spitze er, der heutige Ingenieur, kenntnisreicher als alle seine Vorgänger. Hand auf’s Herz: Wer von uns Bauingenieuren glaubt nicht, dass wir unser Handwerk heute besser verstehen als alle anderen vor uns? Das Ingenieurverständnis von Geschichte ist teleologisch, auf das Ziel Zukunft ausgerichtet.
Mit diesem Entwicklungsmodell einher geht eine bemerkenswerte Überschätzung der eigenen Gegenwart. Nehmen wir nur Fritz Leonhardts Vorwort des Bands „Große Konstrukteure“ aus dem Jahr 1966: „In den letzten 50 Jahren“, so schreibt er, „hat sich das Bauen so grundlegend verändert wie nie zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum.“ Ist das denn richtig? Geschah denn beispielsweise in den 50 Jahren von 1820 bis 1870 weniger? Wohl nicht. Der französische Philosoph Michel Foucault hat diese Überhöhung der Gegenwart in der ihm eigenen Prägnanz charakterisiert: „Wir stoßen hier auf eine höchst schädliche Gepflogenheit des zeitgenössischen Denkens […]. Der Augenblick der Gegenwart wird in der Geschichte als derjenige des Bruchs, des Höhepunktes, der Erfüllung, der wiederkehrenden Jugend usw. bestimmt. […] Man muß wohl die Bescheidenheit aufbringen, einzugestehen, daß der Zeitpunkt des eigenen Lebens nicht der einmalige, grundlegende und umstürzende Augenblick der Geschichte ist, von dem aus sich alles vollendet und neu beginnt.“
Derart bescheiden zu sein, das fällt schwer. Und dementsprechend lesen wir Bauingenieure unsere Geschichte, auch jetzt, da wir uns wieder etwas mehr mit ihr zu befassen beginnen, doch nach wie vor vornehmlich als eine Abfolge von Großtaten und Neuerungen, als einen Festzug von Heroen und Ikonen, der letztlich vor allem den einen Sinn hat, eben auf unsere Gegenwart hinzuführen und sie zu legitimieren. Wir bewundern und staunen, durchaus, aber tun dies doch allzu gern mit einer leicht gönnerhaften Attitüde: „Erstaunlich, dass unsere Vorgänger das damals schon gekonnt haben…“ Eine Bereicherung unserer Praxis sehen wir in der Geschichte nicht. Lernen aus der Geschichte? Geschichte als Produktivkraft? Nein.
Das 19. Jahrhundert: Aufstieg der Ingenieurwissenschaften – Entsorgung der Geschichte
Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert gehörten ausführliche genealogische Betrachtungen zum selbstverständlichen Themenkatalog fast eines jeden bautechnischen Lehrbuchs in ganz Europa. Erinnert sei pars pro toto an die frühe Baukonstruktionslehre schlechthin, den grandiosen „Traité théorique et pratique de l’art de bâtir“ des Jean-Baptiste Rondelet. Seit 1802 sukzessive in fünf Bänden erschienen, entwickelte er die Kunst des Konstruierens konsequent aus der Geschichte heraus. Neueste Eisentragwerke, ihre Details, ihre nun systematisch in Versuchsreihen ermittelten Materialkennwerte und die zugehörigen Versuchseinrichtungen standen völlig selbstverständlich neben römischen Gewölbebauweisen oder kunstvollen barocken Treppenausbildungen. Das Lehrkonzept des Rondelet – „théorique et pratique“ – fußte auf Theorie und Empirie.
Theorie – das waren für die Baukunst des frühen 19. ahrhunderts vor allem die „deskriptive“ und dnn „projektive“ Geometrie und ihre Übertragungen in die Stereotomie, die Kunst des Steinschnitts. Empirie aber – das war die Diskussion gebauter Beispiele aus allen Phasen der Geschichte. Und so gehörten neben Geometrie und Stereotomie fundierte Kenntnisse über historische Bauweisen zum selbstverständlichen Wissenskanon der angehenden Ingenieure. Sie lasen ihre Geschichte als ein Lehrbuch. Der Siegeszug der Baustatik und die damit verbundene grundlegende Neuorientierung des Bauwissens als einer vornehmlich mechanisch begründeten Ingenieurwissenschaft ließ dem im weiteren Verlauf des Jahrhunderts jedoch zunehmend weniger Raum. Wozu noch Empirie und Geschichte? Man hatte doch eine offenkundig immer leistungsfähigere Theorie! Die Lehrbücher wandelten sich. Die Diskussion konkreter Bauwerke trat in den Hintergrund, Geschichte verlor ihre Funktion als lehrreicheWissensquelle zugunsten zunehmend abstrahierter Darstellungen. Ein beredtes Beispiel dafür bietet das „Lehrbuch der Eisen-Constructionen“ von Eduard Brandt. Im Vorwort zur 2. Auflage von 1871 begründet es die Abkehr von der Geschichte gleichermaßen explizit wie malerisch: „Aristoteles sagt: Wenn ein Mensch an Vergangenes denkt, so blickt er zur Erde, denkt er an Zukünftiges, so schaut er gen Himmel. Den Verfasser fesselten in weit höherem Grade die Verhältnisse der Gegenwart und so schien es ihm geboten, auf retrospective Betrachtungen zu verzichten […].“
Mehr als ein Jahrhundert lang sollte nahezu radikale Geschichtslosigkeit Lehre, Forschung und Praxis des Bauingenieurwesens prägen. Noch in den 1970er Jahren hörte ich in meinem eigenen Studium an der TU Berlin von der Geschichte meines Fachs kein Wort – wozu auch? Wir erlernten die leistungsfähigsten Berechnungstools aller Zeiten und brannten darauf, damit leichter, weiter und höher zu bauen als je zuvor. Das Münchner Olympiadach war gerade vollendet, und auf unseren (West-) Berliner Tagesexkursionen bestaunten wir Inbegriffe modernsten Ingenieurbaus, die uns heute eher verlegen machen – von der (später eingestürzten) Kongresshalle im Tiergarten bis zur Baustelle des „Steglitzer Kreisels“ (eines Stahl- Hochhauses, das bald schon vor allem als Inbegriff für den „Sumpf“ der Berliner Baupolitik gelten sollte und später Jahrzehnte lang leer stand). Für uns waren dies die Inkunabeln des Fortschritts. Das war die Zukunft. Und wir wurden ihre Baumeister. Wozu noch Geschichte?
Aristoteles sagt: Wenn ein Mensch an Vergangenes denkt, so blickt er zur Erde, denkt er an Zukünftiges, so schaut er gen Himmel.
Indizien einer Renaissance – History is back?
Seit geraumer Zeit indes sind Indizien für eine Renaissance des Geschichtsbezugs im Bauingenieurwesen unverkennbar. Nehmen wir nur den deutschsprachigen Raum. Erste Anzeichen gab es hier bereits in den 1980er Jahren mit zwei Sonderforschungsbereichen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die der Geschichte des Konstruierens eigene Sektionen widmeten. Im Fachkollegium „Bauwesen und Architektur“ der DFG wurde zwischenzeitlich die „Bau- und Konstruktionsgeschichte“ als eigenes Forschungsgebiet ausgewiesen; zahlreiche von der DFG geförderte Forschungsvorhaben haben sie längst als Forschungsfeld konsolidiert, zunehmend richten Hochschulen bautechnikgeschichtliche Fachtagungen aus. Nicht zuletzt wurden seit Anfang der 1990er Jahre mehrere Professuren zur Bautechnikgeschichte eingerichtet; neben den Nach-Wende-Neugründungen an der BTU Cottbus und der FH Potsdam sei hier die jüngst an der ETH Zürich etablierte Professur „Bauforschung und Konstruktionsgeschichte“ genannt.
Inzwischen gibt es in allen großen europäischen Ländern und den USA Fachgesellschaften zur Bautechnikgeschichte, seit 2003 kommen sie regelmäßig zu großen Weltkongressen zusammen. 2013 wurde selbst in der IABSE, dem 1929 begründeten Bauingenieur-Weltverband, eine Working Group „Construction History“ etabliert. Und nicht zuletzt ist unter den praktisch tätigen Bauingenieuren ein wachsendes Interesse an der Geschichte des eigenen Fachs unverkennbar. Hierzulande ist der Erfolg der „Historischen Wahrzeichen der Ingenieurbaukunst in Deutschland“ dafür ebenso Beleg wie das oft beeindruckende Engagement von Fachleuten für den Erhalt bedrohter Zeugnisse des Bauingenieurerbes.
Aber hat sich denn etwas verändert, dass wir uns wieder für Geschichte interessieren sollten? Wir können doch noch viel komplexer rechnen (lassen), haben alles noch besser geregelt und strenger genormt als je zuvor, unsere maßgeschneiderten FE-Modelle machen selbst das schwierigste (und machnmal unsinnigste) Tragwerk berechenbar, unsere hochfesten Werkstoffe haben kaum noch etwas mit denen früherer Jahrhunderte gemein! Wozu plötzlich wieder Geschichte?
Bauen im Bestand – Geschichte als Grundlagenfach
Doch, es hat sich etwas geändert. Die Einrichtung des Sonderforschungsbereichs 315 „Erhalten historisch bedeutsamer Bauwerke“ stand 1985 paradigmatisch für die zunehmende Verschiebung wesentlicher Aufgaben- und Berufsfelder der Bauingenieure vom Neu-Bauen zum Weiter-Bauen.
Begonnen hatte dies mit der Wiederentdeckung der Werte der historisch gewachsenen Stadtkerne und Altbauten, die von den Neubau-Tsunamis der Nachkriegszeit noch verschont geblieben waren. Plötzlich war Altes nicht mehr nur ein noch abzuarbeitender Restbestand auf der Erneuerungsliste, plötzlich galt Ersatz durch Neu-Bauen nicht mehr per se als selbstverständlich und einfach gut.
Heute sind Erhaltung, Instandsetzung und Ertüchtigung bestehender Bauten zu alltäglichen Handlungsfeldern der Bauingenieure geworden, längst nicht mehr allein im Wohnungsbau, sondern im baulichen Erbe generell. Selbst in der hohen Schule des Bauens im Bestand, dem Erhalten und Weiterbauen an Baudenkmal und Welterbe, geht ohne kompetente Bauingenieure gar nichts mehr. Vor allem aber ist hier der gewaltige Investitionsbedarf in die Verkehrsinfrastruktur zu nennen – Aufgaben, bei denen die begrenzten Etats der öffentlichen Bauherren schlicht dazu zwingen, bei jeder Brücke genau hinzuschauen, ob ihre Lebensdauer wirklich abgelaufen ist und ob sie sich nicht für wesentlich weniger Geld für langfristige Nutzungen ertüchtigen statt abreißen und neu bauen ließe.
Grundlegend unterscheidet sich die Methodik des Weiterbauens von der des Neubauens: Steht am Beginn der Planungskette im Neubau der architektonische Entwurf, so ist es im Weiterbauen die Realität des Bestands. Die Entwicklung angemessener Lösungen dafür erfordert nicht nur fundierte Kenntnisse moderner Bauwerksuntersuchung und realitätsnaher Modellierung. Eine sachgerechte Beurteilung braucht auch Basiswissen zu historischen Strukturen und Details, Konstruktionsweisen und Werkstoffen. Für die Ingenieurplanung im Bestand ist neben der konstruktiven und rechnerischen Analyse die historische unverzichtbar geworden. Auf dieser ersten Ebene des sachkundigen Weiterbauens in Bestand und Erbe hat Geschichte unmittelbare Praxisrelevanz. Bautechnikgeschichte ist hier ein Grundlagenfach.
Lernen in der Diskussion gebauter Beispiele: Notizen des Gilly-Schülers Martin Friedrich Rabe (1765 – 1856) in dessen Grundriss zu den Vorlesungen über (…) Wasserbaukunst, 1795
Quelle: FH Potsdam, SPSG (Hg.), Vom Schönen und Nützlichen. David Gilly (1748 – 1808) Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, S. 77
Geschichte als selbstverständlicher Teil der Konstruktionslehre: Rondelets ‚L’art de bâtir“, 1802
„The study of our past gives us a collective memory and therefore a way to establish our identity.“
Orientierung, kritische Distanz und Motivation – Geschichte als Angebot und Ankerpunkt
Dem konkreten Zweck im Bestand steht ein allgemeineres, nicht minder wichtiges Bedeutungsfeld gegenüber. Es hat mit dem wachsenden Bedürfnis nach Orientierung in einer kaum noch überschaubaren Baupraxis zu tun. Die Vielfalt der Bauprodukte, die Regelungsdichte und – tiefe, aber auch die Diversifizierung der Aufgaben und Methoden haben einen nie zuvor gekannten Grad erreicht. Die Listen der am Bau beteiligten Spezialisten werden immer länger, klassische Tätigkeitsfelder des Bauingenieurs sind zudem längst auf Rechner ausgelagert. Derart komplexe Planungsmaschinen zusammenzuhalten, wird immer schwerer. Die resultierenden existenziellen Schwierigkeiten mancher Großbaustelle sind wohlbekannt. Gegenwärtig versprechen „Digitale Baustelle“ und „Building Information Modeling“ einer biblischen Urgewalt gleich, Ordnung in das Chaos zu bringen. Sollten sie nicht vielleicht durch etwas mehr Überblickswissen und Empiriebezug der Beteiligten ergänzt werden? Ein Baustein dazu wäre ihre bessere Verankerung in der Geschichte dessen, was sie da tun. Geschichte bietet besseres Verstehen durch ganzheitliche Perspektiven und die Ergänzung des deduktiv Erlernten um genealogisch Erkanntes – und eröffnet damit die Chance auf Orientierung, wohltuende kritische Distanz und mutige Motivation: „Was machen wir da eigentlich gerade?“
Gelehrt und gelernt werden muss dies bereits in der Bauingenieur- Ausbildung. Deren teilweise Praxisferne, deren Zergliederung in isolierte Einzelfächer und deren verbreitete Abschottung zu den Architekten sind vielfach kritisiert worden. Das Fach Bautechnikgeschichte kann hier synthetisch wirken, indem es eine andere, zusammenhängende Sicht vermittelt: Im wirklichen Bauen flossen schon immer viele Bereiche zusammen, und alles Bauen war und ist immer ein Verbundprojekt vieler Beteiligter.
Die Sicht auf eine noch von Regelwerken weitgehend unbelastete historische Praxis ermöglicht darüber hinaus den Studierenden eine konstruktiv-kritische Reflektion der heutigen, fast überbordenden und doch scheinbar selbstverständlichen Normen ebenso wie der Methoden des Bauingenieurs. Selbst mich überraschte in meinen Kursen zur Geschichte der Baustatik, wie sinnvoll ein historisch-genealogischer Ansatz die klassisch-deduktive Lehre in Statik und Mechanik ergänzen und zu einem wesentlich vertieften Verständnis der Zusammenhänge führen kann!
Vor allem aber bietet die Auseinandersetzung mit historischen Bauingenieur-Persönlichkeiten den Studierenden die Chance, die Kraft, Schönheit und Großartigkeit des Ingenieurberufs bereits im Studium erahnen zu lernen. Ein zukunftsfähiges Bauingenieurwesen braucht mehr als Techniker. Es braucht begeisterte Jungingenieure, die nicht allein ihr Handwerk gut gelernt haben, sondern sich auch der gesellschaftlichen und kulturellen Dimensionen ihrer Disziplin und ihres Handelns bewusst sind. Geschichte stiftet Identität, oder, wie es 1999 Roger Ridsdill Smith, Ingenieur bei Ove Arup in London, formulierte: „The study of our past gives us a collective memory and therefore a way to establish our identity.“
Haltungen zum Konstruieren – Macht Geschichte bessere Ingenieure?
Ridsdill Smith formulierte dies im Rahmen eines Workshops der britischen IABSE-Sektion in Cambridge, der unter dem Titel „Learning from Engineering History?“ ein drittes Bedeutungsfeld von Geschichte für Bauingenieure aufzeigte. Ich habe es an anderer Stelle genauer untersucht, hier sei es zumindest kurz benannt und lässt sich in einer einfachen Frage zusammenfassen: Macht Geschichte bessere Ingenieure?
Schon 1971 hatte der Historiker Golo Mann vor dem Deutschen Betontag in (West-) Berlin unter dem Titel „Können wir noch aus der Geschichte lernen?“ eben diese Frage aufgegriffen. Gegenüber dem Prognosepotential von Geschichte blieb er skeptisch, sah er doch in ihr eher „das Überraschende, Unvorhersehbare“. Lehren aber könne sie, so Golo Mann, bestimmte Grundhaltungen: „[…] eine Lehrerin der Bescheidenheit […], ein Gegengift gegen allen Fanatismus, alle falsche Selbstsicherheit, Schwarz-Weißmalerei und Rechthaberei. Das könnte sie sein.“
Geschichte als Lehrerin von Bescheidenheit und Demut – unbestreitbar ist das heute nicht weniger aktuell als vor 50 Jahren. Weiter gefasst und zugeschärft, birgt aber gerade der Begriff der „Haltung zum Konstruieren“ den Schlüssel zu dieser dritten Dimension, in der Geschichte die Bauingenieure lehren und prägen kann. Gemeint ist damit nicht die Arbeitsmethodik im engeren Sinne. Gemeint sind vielmehr die individuell wie kollektiv ganz unterschiedlichen und in der Regel unausgesprochenen scheinbaren Selbstverständlichkeiten und Überzeugungen, die die Übernahme bestimmter Aufgaben, die Entwicklung ingeniöser Lösungen und schließlich die Art ihrer Realisierung bestimmen. Die Briten haben dafür den Begriff der „Philosophy of approach“ entwickelt. Anders gesagt: Es geht um den untergetauchten Teil des Eisbergs der Geschichte – nicht die sichtbaren Produkte stehen im Mittelpunkt, sondern die eher verborgenen Ansätze und Lösungsstrategien.
So gelesen ist Geschichte ein Angebot zur Selbstverständigung: Ein unendlich weites Feld von Facetten historischer Haltungen tut sich auf, an denen sich der heutige Ingenieur reiben und seine eigene Haltung schärfen kann. Es gibt dabei nicht gut oder schlecht, es gibt keine Wertungen, es gibt kein Ziel. Es gibt zunächst nur unterschiedliche Praktiken und Haltungen, die sich studieren, erkennen und reflektieren lassen. Man entdeckt, dass scheinbare Selbstverständlichkeiten bei weitem nicht so selbstverständlich sind, wie es erscheinen mag – und sei es, dass die Entwurfs- und Konstruktionspraktiken gerade der erfolgreichen Ingenieure oft eben nicht dem eingangs benannten vertikalen Ingenieur-Denken entsprechen, sondern sie vielmehr auch synthetisch, assoziativ, ja künstlerisch arbeiten.
Macht Geschichte bessere Ingenieure? Zumindest kann sie ihre Gewissheiten in Frage stellen.
Macht Geschichte bessere Ingenieure? Zumindest kann sie ihre Gewissheiten in Frage stellen.
Die Vergangenheit hat mich gedichtet.
Ich habe die Zukunft geerbt.
Mein Atem heißt jetzt.
Ausblick – oder: Vom rechten Gebrauch der Geschichte
In welcher Weise also sollten Bauingenieure ihre Geschichte nutzen? Unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ unterschied Friedrich Nietzsche drei Arten der Geschichtsrezeption: „In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“ – drei Arten, die er die „monumentalische“, die „antiquarische“ und die „kritische“ nannte. Hier ist nicht der Ort, um differenzierter auf Nietzsches lesenswerte Überlegungen zu Sinn und Funktion des Gebrauchs von Geschichte einzugehen, doch lässt sich vielleicht erahnen, dass sich zwischen den von ihm benannten Polen vieles von dem aufspannen lässt, was Geschichte für Bauingenieure sein kann:
- kraftvoller Impuls für die Entwicklung eigener, „kritischer“ Positionen angesichts ungebremst weiter anwachsender Regelungsapparate, ausufernder Ab- und Versicherungsängste und sinnentleerter Bauaufgaben;
- Grundlage für ein sachgerechtes und respektvolles Agieren im Bestand und das „antiquarische“ Bewahren des eigenen Ingenieurerbes – nicht zuletzt durch die Benennung und Beschreibung der „Historischen Wahrzeichen“;
- und nicht zuletzt „monumentalischer“ Ansporn zum mutigen, selbstbewussten Handeln im Bewusstsein der kaum zu überschätzenden Verantwortung des Bauingenieurs für Gesellschaft und Baukultur.
1874 waren Nietzsches Reflektionen eine Kampfschrift gegen einen Zeitgeist, der Geschichte zur Etablierung und Legitimation konservativer Gesellschaftsbilder und Machtverhältnisse zu missbrauchen suchte. Geschichte sollte verändern, nicht konservieren. Gilt dies nicht heute ebenso wie vor 150 Jahren, und gerade für die Bauingenieure? Geschichte – das sollte für uns mehr sein als ein gefälliges „on Top“ für den selbstzufriedenen Feier- und Lebensabend, mehr als ein programmatisches Beiwerk im Zeichen jener gleichermaßen ratlosen wie fraglichen Rekonstruktionswelle, die gerade erstaunliche Verbreitung in der Bauwelt erfährt. Geschichte derart zu reduzieren, hieße sie gründlich misszuverstehen, hieße, sie ihrer inhärenten Potenziale zu berauben. Dazu ist sie zu wertvoll. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Handeln, Agieren, gerade auch als Ingenieur, braucht Beides: Erinnern und Vergessen. Wenn Nietzsche bereits im Titel neben dem Nutzen vom „Nachtheil“ spricht, dann meint er genau dies: „[…] daß man ebenso zur rechten Zeit zu vergessen weiß, als man sich zur rechten Zeit erinnert.“ Die Balance ist entscheidend – zwischen Aktion und Reflektion, zwischen Gegenwart, Zukunft und Geschichte. Machen nicht gerade seine vielen Facetten die Kraft des Bauingenieurwesens aus? Stehen wir Bauingenieure also zu unseren vertikalen Denkansätzen, die ja enorme Qualitäten haben, doch wagen wir es zugleich, in die Weite der Geschichte zu denken! Gewiss – niemals wird die Lösung für ein aktuelles Problem direkt in einem Problem zu finden sein, das sich in einer früheren Epoche gestellt hat. Niemals geht es um die unmittelbare Erneuerung eines alten Konstruktionsmusters, einer Sichtweise, einer Haltung. Nicht Rechtfertigung aktueller Praktiken birgt Vergangenheit – wohl aber deren Genealogie und die Option innovativer Transformation. Geschichte ist das Versprechen auf ein besseres Verstehen der Gegenwart und Aufforderung zum Handeln. Ich möchte enden mit sechs Zeilen der aus der Bukowina stammenden Lyrikerin Rose Ausländer, die einem derartigen Geschichtsverständnis innewohnende Spannung, Schönheit und Verantwortung beeindruckend zu kondensieren vermochte: