ZERO
Fossile Energieerzeugung
Prof. Dr.-Ing. Werner Sobek
Beginnen wir mit Werten. Werte, die unserem gesellschaftlichen Sein und Handeln Grundlage geben, Werte, die das Grundmuster dessen beschreiben, auf dem wir als Ingenieure und Architekten, als Gestalter, als Bauschaffende aufsetzen. Werte, die Grundlage unseres Schaffens sind. Die dramatischen Veränderungen in unserer Welt resultieren in der Notwendigkeit einer radikalen Veränderung unseres Handels im Generellen, aber auch des Handelns der Bauschaffenden im Speziellen.
Ich habe mein ganzes Leben der Suche nach dem Schönen gewidmet. Ich habe das Schöne als Jugendlicher in der überbordenden Vielfalt, im Reichtum der Formen, der Farben und der Materialien gesucht und – lange Zeit später – schließlich im Einfachen gefunden. Ich habe mich am Einfachen abgearbeitet und bin schließlich beim Minimalen angekommen. Ich habe das Minimale untersucht und ausgelotet. Und bin schließlich auf die Suche nach dem Nichts gelangt.
Ich bin Gestalter. Aber um das gestalten zu können, was ich tue, benötige ich eine große wissenschaftliche, eine ingenieurwissenschaftliche Basis. Eine Klaviatur aus wissenschaftlich abgesicherten, wohlabgestimmten Tasten, auf denen es eine Melodie, ein Gebäude, ein Bild zu komponieren, zu entwickeln gilt. Als so ein Gestalter denke ich in Bildern, in häufig nur erahnten räumlichen Kompositionen aus Material, aus Farbe und Licht, aus Klängen, aus Gerüchen. Als Gestalter denke ich in häufig nicht in Worte fassbaren, vielleicht nur unscharf skizzierbaren Welten. In diesen Welten, in diesem Meer der – zumindest anfänglichen – Unschärfen bilden, um es mit einer wunderbaren Formulierung von Anselm Kiefer auszudrücken, die Wissenschaften meine festen Inseln. Die Inseln meiner vermeintlichen Gewissheiten. Ich schwimme zu ihnen, von einer zur anderen. Ohne sie bin ich – als Gestalter – verloren.
Als Wissenschaftler denke ich in mathematisierbaren Zusammenhängen, Strukturen und Systemen. Ich denke in vermeintlich durch feste Regeln und Erkenntnisse konditionierten Sphären, in Prozeduren, die versprechen, die Wahrheit, das Richtige hervorzubringen. Und dennoch: Trotz aller Ratio und suggerierten Sicherheit konnte mich die Wissenschaft allein nie ganz befriedigen, mir nie das Gefühl geben, auf sicherem Pfad zu sein. Gibt es doch Dinge wie ein tiefes, aufrührendes Rot, das unsere Seelenstimmung innerhalb von Sekunden umzustürzen vermag, gibt es doch Melodien, die uns zum Weinen bringen oder die Bilder Cézannes von der Montagne Saint-Victoire….
Allesamt erzählen diese Dinge, wie Gottfried Schatz es beschrieb, „von einem verzauberten Land, einem Land, das jenseits jeder Wissenschaft liegt. Dieses Land wurde meine Heimat. Erst dieses Land schenkte meiner Sicht der Welt – neben dem der Wissenschaft – einen zweiten Blickwinkel – und damit die Dimension der Tiefe. Diese Tiefe gilt es auszuhalten. Ist sie doch nichts anderes als der Spagat zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Deduktion und Induktion, zwischen dem wissenschaftlich ausgebildeten Ingenieur, dessen Tun traditionell darin liegt, die Dinge auseinanderzunehmen, zu analysieren und zu erklären, und dem Gestalter, der das Unbekannte, das Unbewusste, das noch-nicht-Gedachte, das noch-nicht-Beschreibbare in einem Entwurfsprozess herauskondensieren und in etwas zu Bauendes überführen muss.
Ein Spagat zwischen dem Wissenschaftler, dem Ingenieur, der immer davon ausgehen kann, dass etwas ist und dem Gestalter, der immer von dem ausgehen muss, was noch nicht ist…
Traditionell denkt man, das eine macht der Ingenieur und das andere der Architekt. Dass zum Gelingen des Ganzen die enge Kooperation beider zwingende Voraussetzung ist, wird von jedermann konzessioniert. Und doch wissen wir alle, dass die getrennten Ausbildungsgänge der beiden Berufsgruppen, getrennt entwickelte Sprach- und Wertewelten sowie eine daraus resultierende räumliche und mentale Trennung der am Bau Beteiligten dazu führen, dass das Werk am Ende zwar stehenbleibt, faktisch aber zumeist nicht richtig gelingt. Unsere gebaute Umwelt steht voll von nicht richtig Gelungenem.
Das Problem der Ausbildung wird im täglichen Leben dadurch verschärft, dass das Bauwesen die einzige Industrie signifikanter Größenordnung darstellt, bei der Planung und Produktion voneinander getrennt sind. Und bei der deshalb Erfahrungen und Rückmeldungen aus der Betriebsphase, aus Um- oder Abbauprozessen nicht an die Produktionsseite oder gar die Planerseite zurückgegeben werden. Wir haben es also mit einer Branche zu tun, die nicht nur ihren Nachwuchs streng nach Disziplinen getrennt ausbildet, sondern die auch einen einzigartigen, unidirektionalen, zudem aber immer wieder unterbrochenen Informationsfluss pflegt.
In der Automobilindustrie, dem Flugzeug- oder dem Maschinenbau fließen die Erfahrungen aus dem Betrieb, der Wartung und der Reparatur der Produkte selbstverständlich in die Konstruktions- und die Designabteilungen zurück. Energieverbräuche und Emissionsverhalten werden gemessen und bilden die Grundlage für die Weiterentwicklung der Produkte. Die Kundenzufriedenheit wird ermittelt und als Grundlage jedweder Weiter- oder Neuentwicklung verwendet. Design, Konstruktion und Produktion arbeiten von Anfang an zusammen.
Im Bauwesen ist das anders. Die Bereiche Planung, Produktion, Betrieb, Wartung und Demontage werden getrennt. Zunächst wird bis zur Ausschreibung, also bis zu dem Zeitpunkt, an dem die meisten die Produktperformance und die Kosten bestimmenden Parameter festgelegt werden, herstellerunabhängig geplant. An eine Betriebs-, Reparatur- oder Abbauphase denkt zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Dann erfolgt die Ausschreibung, in der das geplante komplexe Produkt Bauwerk auf zumeist tausenden von Seiten beschrieben wird. Die ausführende Seite, die Produktion, muss auf diese Unterlagen innerhalb von vier bis sechs Wochen einen verbindlichen Preis abgeben. Rückfragen an oder Gespräche mit den Planern sind in dieser Phase meistens nicht möglich. Auch nach Abgabe des Angebots nicht, vielmehr erfolgt jetzt die Vergabe, häufig genug durch den sogenannten Einkauf.
Während die Planerseite darauf hofft, dass eine Ausschreibung in sich widerspruchs- und fehlerfrei ist, spekuliert die Anbieterseite auf das Gegenteil. Die daraus nahezu immer entstehenden Streitereien beschädigen das in den weiteren Prozessschritten dringend benötigte gegenseitige Vertrauen. Spätestens in dieser Phase kommt die Jurisprudenz ins Spiel. Bei den meisten Bauvorhaben liegen die Anwaltskosten in der Größenordnung der Honorare der Planer. Vertrauen wird dabei nicht zurückgewonnen – im Gegenteil, fortan schützen sich alle Beteiligten durch entsprechenden Schriftverkehr. Die Anwesenheit von Projektsteuerern hilft zumeist wenig. Häufig ist das Gegenteil der Fall. Niemand kümmert sich um Betrieb, Reparatur oder Abbau.
Warum nimmt das Bauschaffen die Erfahrungen, Methoden und Prozesse anderer Industriezweige nicht auf? Je mehr die Zeit voranschreitet, desto mehr Absurditäten leisten wir uns. Die neueste Errungenschaft unserer Branche besteht darin, dass sich die Bauherren zwar immer noch wünschen, dass sich ein Architekt in einem Architekturwettbewerb von Fachplanern beraten lässt, der Bauherr aber gleichzeitig mit dem Architektenwettbewerb eine VOF-Ausschreibung für die Ingenieurdienstleistungen vorbereitet. Das führt häufig genug dazu, dass die im Wettbewerb beratenden Ingenieure nicht zum Auftrag kommen. Mit dem Ergebnis, dass kaum noch ein Ingenieur eine Wettbewerbsberatung macht, weil er damit letztlich kostenlos und à la longue seine Arbeit und seine guten Ideen zur Grundlage eines Honorarangebotes seiner sogenannten Kollegen macht.
Wenn aber Architekten in einem Wettbewerb ein Gebäude entwickeln, das aufgrund nicht eingeflossener Fachingenieurkompetenz als suboptimal zu bezeichnen ist, dann dient genau dies nicht den großen Zielsetzungen unserer Sonntagsreden. Das und vieles anderes bestimmt den Status quo, der zu den leidlich bekannten Ergebnissen führt. Letztlich ist dieser Zustand ist nichts anderes als ein Trauerspiel. Er hat weder etwas mit Baukultur noch mit Kultur im Generellen zu tun. Baukultur umfasst die gesamte von Architekten und Ingenieuren geplante und deshalb zu verantwortende Umwelt. Und diese gebaute Umwelt bedingt in signifikanter Weise unser psychisches wie physisches Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit, unsere Gesundheit, unsere Seelenstimmung. Wenn wir dies erkannt haben, dann müssen wir fragen, welche Bedingungen zu setzen, welche Verhältnisse zu ändern und welche zukünftigen Szenarien zu antizipieren sind.
Wie wir wissen, steht das Bauwesen heute für – jeweils etwa – 60 Prozent des Ressourcenverbrauchs, 50 Prozent des Massenmüllaufkommens, 35 Prozent des Energieverbrauchs, 35 Prozent der Emissionen. Aufgrund dieser großen Anteile am Gesamtproblem könnten selbst kleine Verbesserungen eine enorme Hebelwirkung entfalten. Aber wo bleiben diese Veränderungen? Die allgemeine Entwicklung des Bauschaffens reflektiert die vor uns liegenden Probleme bisher wenig bis gar nicht.
Ein Blick auf die Architektur: Das architektonische Schaffen hat sich nach dem von Stanley Tigerman ausgerufenen Ende des International Style zu Postmodernismus, Dekonstruktivismus, Biomorphismus, SuperDutch, Blob- und sonstigen Stilarten aufgemacht. Stilarten eben. Die Heroen der zeitgenössischen Architektur sprechen zum größten Teil immer noch nicht über Energie- oder Ressourcenverbrauch – das als Birdnest gefeierte Dach des Olympiastadions in Peking hat ungefähr das fünfzehnfache an Stahl verbraucht als dies mit einer klügeren Lösung der Fall gewesen wäre.
Ein Blick auf die Ingenieure: In den letzten Jahren hat sich die Berechenbarkeit der Dinge in unglaublicher Weise fortentwickelt. Nahezu alles wurde baubar. Ein Entwurfskonzept kann nicht schräg genug sein. Anything goes heißt die praktizierte Devise. Der in dieser Aussage versteckte Stolz verdeckt aber etwas: Das Fehlen eines ethisch übergeordneten Ziel- wie Handlungsrahmens. Wo früher noch „Dem Schönen“ oder „Dem Nützlichen“ oder „Dem Guten“ über den Eingangstüren unserer Akademien stand, fehlen heute die Überschriften. Die Ausbildung wurde quasi von ethischen Normen befreit, sie wurde moralisch unverbindlich. Die den Studierenden vermittelten nicht-wissenschaftlichen Werte beschränken sich auf die Forderung nach Wirtschaftlichkeit. Der Satz „So etwas darf man nicht tun“ fällt in der akademischen Lehre nicht mehr. Auf solchem Boden aber kann keine Baukunst entstehen.
Angesichts des großen Ressourcenverbrauchs sowie des daraus resultierenden Müllaufkommens, wäre anderes Handeln angesagt. Angesichts der langsam ins Bewusstsein rückenden Bevölkerungsexplosion wäre anderes Handeln angesagt. Angesichts des signifikanten Beitrags des Bauwesens zur Erderwärmung wäre anderes Handeln angesagt. Weil die Hebelwirkungen des Bauschaffens bezüglich der Ressourcen-, Energieverbräuche wie der Emissionen so enorm sind und persönliches Nicht-Handeln unverantwortbar erscheint, habe ich bereits im Jahr 1992 begonnen, Vorlesungen über recyclinggerechte Architektur zu halten. Im Jahr 2000 habe ich den Begriff Triple Zero eingeführt, als eine Kennzeichnung, mehr noch, als eine Forderung an alles zu bauende. Nämlich Zero fossil erzeugte Energie zu verbrauchen, Zero umweltschädliche Abgase abzugeben und Zero Müll während Bau, Um- oder Abbau zu hinterlassen. Auch wenn diese Forderungen für viele zunächst unrealisierbar schienen, so sind sie doch in meinen Augen nach wie vor der einzige Weg.
Wir wissen, dass wir kein Energieproblem haben. Die Sonne strahlt 10.000-mal mehr Energie auf die Erde ein als die Menschheit für alle ihre Funktionen benötigt. Darüber hinaus haben wir noch andere nachhaltige Quellen wie die Energie des Tidenhubs oder die Geothermie. Die Probleme liegen also woanders: Erstens können wir noch nicht genügend erneuerbare Energie ernten. Zweitens haben wir noch nicht genügend Energiespeicher, um die Verschiebung zwischen Erzeugung und Nutzerbedarf zu puffern. Drittens fassen wir die Möglichkeit einer intelligenten Vernetzung unserer Gebäude immer noch nicht kraftvoll genug an, sondern verstecken uns lieber hinter administrativen und juristischen Hürden. Wir halten an der Gebäudeoberfläche als Systemgrenze fest, fordern für jedes Gebäude die gleiche Performance. Darüber hinaus müssen wir ganz offensichtlich viel präziser sprechen, viel präziser differenzieren und viel radikaler denken als bisher. Denn es geht nicht darum, Energie zu sparen. Es geht darum, sofort auf fossil erzeugte Energie zu verzichten. Denn wir heizen das Erdklima durch einen zu langsamen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern – seien es Pellets, Öl, Gas oder Kohle – noch viel zu lange auf.
Fossile Energieerzeugung
Müll hinterlassen
Umweltschädliche Abgase
Die Maßnahme hat also lediglich Schlimmeres verhindert, das Problem aber nicht einmal ansatzweise gelöst. Ein in einer Neubauwohnung lebender Mensch verbraucht heute genauso viel Energie wie vor 40 Jahren.
Die Bundesregierung hat 2010 eine Initiative ergriffen, um den Bestandswohnungsbau innerhalb von 40 Jahren, also bis zum Jahr 2050, mit einer Rate von zwei Prozent jährlich energetisch zu sanieren. Unter energetischer Sanierung versteht man dabei eine Reduktion des Energieverbrauchs für Heizen und Warmwasser gegenüber dem Jahr 2010 um 80 Prozent. Die beobachtete Sanierungsrate liegt bei etwa 0,7 Prozent, also bei einem Drittel des angestrebten Wertes. Das bedeutet, dass wir für die energetische Sanierung unseres Wohnungsbestandes noch 120 Jahre benötigen.
Warum nehmen die Menschen die angebotenen Lösungen nicht an? Sind es ökonomische Gründe? Einiges spricht dafür. Bei durchschnittlichen Kosten für Heizung und Warmwasser von 1.200 Euro jährlich bedeutet eine Reduktion des Energieverbrauchs um 80 Prozent eine Einsparung von 960 Euro jährlich. Selbst wenn man die Kosten für eine energetische Sanierung eines bundesdeutschen Durchschnittshabitats von 92 Quadratmetern mit viel zu niedrigen 500 Euro pro Quadratmeter ansetzt, dann bedeutet dies – Steuererleichterungen, Finanzierungskosten und ähnliches einmal außen vor gelassen– Sanierungskosten von 46.000 Euro und dementsprechend, bei 960 Euro jährlicher Einsparung, eine Amortisationszeit von knapp 48 Jahren. Ganz offensichtlich ein teures, schwerfälliges Instrument – und dennoch nach wie vor die Maxime unserer offiziellen Bemühungen zur Energieeinsparung.
Gäbe es nicht andere Lösungen? Ja. Wir könnten mit wesentlich einfacheren Mitteln wie zum Beispiel einer nachrüstbaren Gebäudeautomation Einsparungen von 20 bis 30 Prozent erreichen – ohne den ökologischen Ballast eines Wärmedämmverbundsystems. Und zu deutlich geringeren Kosten. Warum investieren wir unser Geld nicht lieber in eine Energiegenossenschaft, die damit Photovoltaikanlagen, Stromspeicher und ähnliches betreibt? Wäre dies nicht ein Schritt ins postfossile Zeitalter, den jeder Bürger sofort gehen kann? Lassen Sie uns aber nicht über die Vor- und Nachteile einzelner Technologien sprechen. Wir brauchen ein vollständiges Verbot des Emittierens von gasförmigem Abfall in die Umwelt ab dem Jahr 2020. Das würde einen Handlungsdruck erzeugen, der einen Innovationsdruck bewirkt. Wir würden wahrscheinlich das größte Innovationsprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik zünden. Und wir würden endlich eine gesamtheitliche Perspektive aufzeigen, ein Ziel definieren. Beides würde uns weiter bringen als alle bisher angedachten Einzellösungen.
Wenn wir dann noch eine zweite Forderung, nämlich die nach Leichtbau- und vollständiger Recyclebarkeit aller verwendeten Baumaterialien und Komponenten aufstellen, dann haben wir zusammen mit dem Verbot der Emission von gasförmigem Abfall in die Umwelt eindeutige Randbedingungen für das Bauwesen geschaffen – die mit ein wenig Anstrengung bereits heute einzuhalten wären.
Betrachten wir, was kommen wird: Von den heute auf der Erde lebenden 7,4 Milliarden Menschen sind etwa zwei Milliarden jünger als 16 Jahre. Diese zwei Milliarden Kinder werden in den kommenden 16 Jahren von zu Hause ausziehen, nach einem Habitat, einem Arbeitsplatz, der zugehörigen Infrastruktur fragen.
Wenn also innerhalb der kommenden 16 Jahre zwei Milliarden Kinder von zu Hause ausziehen, haben wir pro Jahr für 125 Millionen Menschen einen Wohnplatz, einen Arbeitsplatz und die zugehörige Infrastruktur zu bauen. Ein finanzielles, ein Ressourcen- und ein Organisationsproblem. Wohnen, Arbeiten und Infrastruktur für 125 Millionen Menschen bedeutet, Deutschland mit seinen gut 80 Millionen Einwohner jedes Jahr 1,5 Mal neu zu bauen. Jahr für Jahr.
Auf jeden Bürger unseres Landes entfallen nach einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages anteilig je 480 Tonnen Baustoffe. Jeder Bürger besitzt schließlich ein Stück Autobahn, Tunnel, Brücke, Oper, Kläranlage oder Kunstmuseum. Wollen wir für die genannten 125 Millionen Menschen jährlich nach deutschen Standard bauen, so müssen wir pro Jahr 60 Milliarden Tonnen Baustoffe herstellen, transportieren und verbauen – und irgendwann auch wieder entsorgen.
Überträgt man die nicht vorstellbare Zahl von 60 Milliarden Tonnen Baustoff in ein einfaches Bild, dann vielleicht dieses: Würde man entlang des 40.000 Kilometer langen Äquators eine 30 Zentimeter breite Wand errichten, die 60 Milliarden Tonnen wiegen soll, müsste diese 2.000 Meter hoch sein. Jahr für Jahr.
Und wenn wir diesen 125 Millionen Menschen nicht einen deutschen Lebensstandard zubilligen, sondern lediglich den in der Flüchtlingshilfekonvention der Vereinten Nationen verankerten, wenn wir ihnen also nicht 46 Quadratmeter Wohnraum pro Person, sondern nur viereinhalb pro Person zubilligen, dann ist die Jahr für Jahr zu bauende Äquatorwand immer noch 200 Meter hoch. Auch dies ist nicht möglich, wenn man die dazu erforderlichen Stoffströme ansieht.
Die Entwicklung der Bevölkerungszahl war spätestens seit dem ersten Bericht des Club of Rome jedermann bekannt. Aber wir haben das Diagramm nicht verstanden. Nicht verstehen wollen. Wir haben die Nichtlinearität der Prozesse nicht verstanden.
Wir haben festzustellen, dass alle Weltklimagipfel der letzten Jahrzehnte ergebnislose Bemühungen und Absichtserklärungen waren.
Dann sollten wir diese Wege nicht weitergehen. Es zeigt sich doch, dass wir mit dem bisherigen Vorgehen nicht in der Lage sind, die vorherzusehenden Probleme auch nur annähernd in den Griff zu bekommen. Und es gibt keinerlei Indiz dafür, dass dies ohne einen radikalen Wechsel überhaupt je der Fall sein wird.
Papst Franziskus sagt in seiner Enzyklika Laudato si: „Warum möchte man heute eine Macht, ein System bewahren, das in die Erinnerung eingehen wird wegen seiner Unfähigkeit einzugreifen, als es dringend und notwendig war?“.
Ich denke, es bedarf eines anderen Weges. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung ungeheuren Ausmaßes. Einer Anstrengung, die von unten, auf der Basis eines Informations- und Bewusstmachungsprozesses entsteht. Diese Anstrengung wird wahrscheinlich dadurch gekennzeichnet sein, dass man sich auf wenige, das menschliche Zusammenleben ermöglichende Grundwerte einigt. Diese werden nicht die Werte unserer sogenannten Ersten Welt sein. Denn deren Werteschemata haben uns an den Rand der Katastrophe geführt, vor der wir stehen.
Wahrscheinlich sind es einfache, einfach zu memorierende Werte, die das Leben in einer gemeinsamen Welt ermöglichen können: Die unbedingte Wertschätzung des anderen als Menschen von gleicher Würde. Und die Überführung des Homo-mensura-Satzes in einen nNatura-mensura-Satz:
Der Rest ist Ausschmückung. Wie aber kann mit der Situation umgegangen werden?
Angesichts der Interdependenzen der Ereignis- und Handlungsstränge ist es eigentlich nicht zulässig. Bezieht man sich trotzdem einmal nur auf das Bauwesen, dann werden die Anforderungen schnell klar: Es geht darum, mehr mit einem Weniger an Material zu bauen. Leichtbau und recyclinggerechtes Bauen sind also das Gebot der Stunde. Es geht darum, ab sofort keinen gasförmigen Abfall mehr in die Atmosphäre zu emittieren. Dies sind die technischen Randbedingungen. Wir brauchen aber mehr als nur diese technischen Randbedingungen. Es geht auch um unsere gesamtgesellschaftlichen Ziele. Diese müssen schnellstens entwickelt werden, auch wenn dies so schwer zu sein scheint.
Die Frage ist: Gibt es in den Ingenieurkammern, in den Architekturkammern, gibt es in unserer Gesellschaft einen Diskurs zur Frage, wie wir unser Leben, unsere Städte, Immobilien und Mobilität in der Zukunft gestalten wollen? Nein. Wenn wir bei all unserem Wissen und Wohlstand unwillens und/oder nicht in der Lage sind zu diesem Diskurs, was ist dann aus Kalkutta, Addis Abeba oder Kairo mit seinen viel größeren und komplexeren Problemen zu erwarten? Woher sollen Konzepte und Lösungen kommen? Die Kompetenz der Ingenieure ist auf die Planung von Gebäuden und deren systemische Interaktion untereinander bzw. mit Mobilitätsträgern beschränkt. In unseren eigenen Arbeiten haben wir vor Jahren begonnen, einen Weg zu gehen, den man mit dem eingangs beschriebenen Triple Zero-Prinzipumreißen kann.
Verantwortetes Bauen für die Zukunft ist weder mit einer traditionellen Ingenieur- noch einer traditionellen Architekturausbildung allein machbar. Ich selbst habe beide Fächer studiert, dazu Vorlesungen über Flugzeugbau, Textiltechnik und Karosseriedesign gehört. Unser Büro hat ein interdisziplinär zusammengesetztes und aufeinander eingespieltes Team von Tragwerksplanern, Architekten, Produktdesignern, Maschinenbauingenieuren, Fassadenplanern, Softwareentwicklern, Haustechnikexperten und viele mehr. Erst diese Multikompetenz, die auf ein Arbeiten in integralen Planungsprozessen trainiert ist, erlaubt uns, das zu bauen, was wir bauen.
Ist Architektur doch, mit Ernst Bloch gesprochen, nichts anderes als der Produktionsversuch menschlicher Heimat.
Es geht um einen sorgsamen Umgang mit den Dingen. Es geht um Materialgerechtigkeit. Es geht um die Ehrlichkeit der Konstruktion. Um die Sinnhaftigkeit des Energiekonzeptes. Um die Angemessenheit einer Lösung.
Es geht um die Erweiterung dessen, was ich als visuelle Architektur bezeichne, also das bisher praktizierte Entwerfen in Linien und Körpern, in geometrischen Erscheinungsformen, in Farben.
Es geht um die dringend notwendige Erweiterung des architektonischen Schaffens um den Komplex des Nicht-Sichtbaren, also ein Entwerfen mit Düften, mit Oberflächenwahrnehmungen, mit Luftströmungen oder Feuchtfeldern. Nicht-visuelle Architektur. Ein Entwerfen für die anderen Sinne. Ein Blinder soll erkennen können, dass wir das Haus geplant haben.
In den vergangenen 15 Jahren haben wir diverse Entwicklungsträger geschaffen, allesamt voll recyclebare Leichtbauhäuser, die keinen gasförmigen Abfall produzieren und die bis zum Doppelten ihres Energiebedarfs aus nachhaltigen Quellen erzeugen. Darauf aufbauend entwickeln wir nun verdichtete Einheiten von bis zu sechs Geschossen, die als Einzelmodule bestehende Gebäude ergänzen oder für sich allein stehen können. Das am Stuttgarter Killesberg erstmals praktizierte Prinzip der Schwesterlichkeit – das heißt, dass zwei oder mehr Häuser sich automatisch und ohne Zutun der Bewohner über ihre zukünftige Energieproduktion und ihren zukünftigen Energieverbrauch verständigen und diese optimal aufeinander abstimmen – dieses Prinzip wird in unseren neuen Häusern selbstverständlich sein.
Gemeinsam können alte und neue Häuser eine gesellschaftliche Norm erfüllen. Nämlich die, keine fossile Energie zu nutzen, keine Abgase zu emittieren. Mit dieser Aufhebung der Systemgrenze, die bisher immer die Oberfläche des einzelnen Gebäudes war, mit der Erweiterung der Systemgrenze auf eine Entität von mehreren, vielen Gebäuden, auf Energiegewinnungs- und –speicheranlagen, eröffnen wir eine Möglichkeit, die Energiewende doch noch, und zwar sehr schnell und zu sehr niedrigen Kosten, zu schaffen. Die Werkzeuge für die Steuerung der einzelnen Elemente gibt es. Wir selbst haben viel Engagement und Arbeit in die Entwicklung dieser Werkzeuge gesteckt. Heute wenden wir sie an. Als Planer gehen wir diese Wege, weil wir sicher sind, dass der sofortige Ausstieg aus der fossilen Energie, sei sie gas-, kohle-, pellet- oder erdölbasiert, ein Gebot der Stunde ist. Und weil wir sicher sind, dass dieses Ziel nur mit selbstvernetzenden und selbstlernenden prädiktiven Systemen zu erreichen ist. Dieser Ansatz ermöglicht – zumindest in Bezug auf Wohn- und Bürogebäude – eine völlig emissionsfreie Stadt. Es bleibt das große Ziel der elektrischen Stadt. Eine vom Verkehrslärm nahezu befreite – stille – Stadt. Eine Stadt ohne Abgase.
Avant la garde zu sein, ist nie einfach und bequem. Aber wir brauchen Menschen, die dies tun – in der Lehre, in der Forschung, in der Politik und in den vielen anderen Bereichen, die uns täglich betreffen.
Angesichts der hier kurz und fragmentarisch skizzierten Situation, vor der ein Bauen von morgen steht, könnte man geneigt sein, aufzugeben oder auszurufen „nach uns die Sintflut“, wie es angeblich Madame de Pompadour einst tat. Dies kann nicht unser Motto sein. Gerade im Kontext des notwendigen Umbaus unserer Welt sagen die Menschen oft, etwas rechne sich nicht. Ja, wenn man das „sich rechnen“ als einen ethisch tauglichen Maßstab ansieht.